Ein Herz für KleineWas wollen die Miniparteien eigentlich im EU-Parlament?

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ARCHIV - 28.04.2024, Mecklenburg-Vorpommern, Schwerin: Wahlplakate verschiedener Parteien hängen an den Laternenmasten einer Ausfallstraße in Schwerin.  (zu dpa: «Umfrage: AfD trotz Verlusten weiter vorn, Wagenknecht-Partei vor Linke») Foto: Jens Büttner/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Wahlplakate in Schwerin. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist zumindest für die Größeren unter den kleinen Parteien eine Chance.

Den einen geht es um Familie, den anderen um Klima- oder Tierschutz. Die Europawahl ist für kleine und Kleinstparteien eine Wahl mit Potenzial.

„Für mehr Eis“ steht in großen weißen Großbuchstaben auf lila Hintergrund – und klein darunter „Deine Stimme für echte Klimapolitik“. Auf einem anderen Plakat steht „Wählen rettet Leben“, im Kleingedruckten wird ein „Ende des Sterbens im Mittelmeer“ gefordert. Die auffällige Wahlwerbung stammt von der Kleinpartei Volt. Bei jeder anderen Wahl würde sie irgendwo in dem grauen Balken der „Sonstigen“ verschwinden. Der Wahlschein bei der Europawahl am 9. Juni aber rettet das Leben vieler Kleinparteien – vermutlich zum letzten Mal gibt es keine Sperrklausel.

Das bedeutet: Bekommt eine Partei den notwendigen Anteil der Stimmen, erlangt sie automatisch einen der 96 deutschen Plätze im Europaparlament. Wie viele Stimmen dafür nötig sind, hängt von der Wahlbeteiligung ab. 2019 reichten schon 0,7 Prozent der Stimmen für einen Sitz aus, 13 Parteien zogen ins Europaparlament ein. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist also zumindest für die Größeren unter den Kleinen eine Chance, ganz groß herauszukommen und einen oder zwei Abgeordnete nach Brüssel zu entsenden.

Dort können sie als fraktionslose Abgeordnete ein Schattendasein fristen – oder sich einer der länderübergreifenden Fraktionen anschließen und auf Augenhöhe mit den „Großen“ mitarbeiten.

Vermutlich zum letzten Mal hat das Wahlverfahren ein Herz für die Kleinen: 2023 stimmte der Bundestag für die Einführung einer Sperrklausel, sie wird aber erst beim nächsten Wahltermin 2029 gelten. 35 Parteien insgesamt treten zur Europawahl an. Wir stellen die wichtigsten vor.

Die Großen unter den Kleinen

Die „Antithese zum Rechtspopulismus“: Volt

Volt gründete sich vor sieben Jahren als europäische Bewegung und länderübergreifende Partei. Seit sechs Jahren ist die Partei auch in Deutschland registriert. 2019 zog Damian Boeselager (36) für die deutsche Partei als erster Volt-Abgeordneter mit 0,7 Prozent der Stimmen ins Europäische Parlament ein. Mittlerweile stellt Volt zwei Abgeordnete: 2023 wechselte die niederländische Europaabgeordnete Sophie in 't Veld von der linksliberalen Partei D66 zu Volt. Bei der Europawahl tritt die Bewegung 2024 zum zweiten Mal an, in 15 Ländern, mit nur einem Wahlprogramm.

Volt sei die „Antithese“ zum Rechtspopulismus, sagt Boeselager im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Einerseits, weil es eine gesamteuropäische Partei sei, andererseits, weil sie ein aktives Gegenangebot schaffe: die Perspektive, Europa besser mitgestalten zu können. Das Hauptziel der Partei sei es, die europäischen Institutionen zu reformieren. Aus dem Europäischen Parlament müsse eine europäische Regierung hervorgehen, „stinknormale repräsentative Demokratie“ eben. „Damit die Rechtsextremen nicht sagen können: ‚Europa, da habt ihr keinen Einfluss drauf.‘“ Boeselager will Transparenz darüber schaffen, wie in Brüssel Entscheidungen zustande kommen. Einen „europäischen Superstaat“ lehnt er ab. Die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs, in denen die wichtigen europaweiten Entscheidungen meist untereinander getroffen werden, möchte er abschaffen.

Liberal in Europa, populistisch in Bayern: Freie Wähler

Die Freien Wähler im Europaparlament scheint wenig mit dem in Bayern polternden Vizeministerpräsidenten Hubert Aiwanger zu verbinden. Seit 2014 sitzen sie im Parlament und haben sich dort der liberalen Renew-Europe-Fraktion angeschlossen. Der Hesse Engin Eroglu (42), auch Vizebundeschef seiner Partei, ist einer von zwei Abgeordneten.

Im Gespräch mit dem RND nennt Eroglu die Preisstabilität des Euro als ein wichtiges Thema für die kommende Legislaturperiode. Sie müsse wieder Kernaufgabe der Europäischen Zentralbank (EZB) werden. In dieser Hinsicht sei seine Partei wirtschaftskonservativ, denn ein stabiler Euro bedeute, dass die Menschen mehr arbeiten müssten. Die Freien Wähler seien aber „von sozial bis konservativ wählbar“, betont Eroglu. „Wir sind keine Themen- oder Klientelpartei.“ Am anschlussfähigsten seien sie für Menschen, „die im Leben was erreichen wollen“.

Außerdem wollen die Freien Wähler laut Eroglu die Landwirtschaft stärken. „Wir wollen, dass die Europäische Union in der Lage ist, sich selbst zu ernähren.“ Lebensmittelhandel mit Drittstaaten schließe das aber nicht aus. Um die EU landwirtschaftlich unabhängig zu machen, müssten weniger Agrarflächen stillgelegt und das vom europäischen Parlament geplante Gesetz zur Renaturierung von Land- und Wasserflächen geändert werden. Mehr Subventionen für die Landwirtschaft schließt Eroglu aber aus.

Auf der Agenda der Freien Wähler steht zudem der Einsatz für eine gesamteuropäische Armee und ein Verteidigungskommissariat, denn noch sei die EU nicht verteidigungsfähig. Um Europa unabhängiger von China zu machen, unterstützt er ein Verbot der Kurzvideo-App Tiktok in der EU.

Gegen den erstarkenden Rechtpopulismus hat Eroglu kein europäisches Rezept. „Wir werden die AfD nicht kleinkriegen durch Politik in Brüssel, sondern nur durch gute Politik in Deutschland“, sagt der Abgeordnete. Zugleich steht der Landwirt Anthony Lee auf Platz sechs der Europa-Liste der Freien Wähler, der im Zuge der Bauernproteste behauptete, die Regierung wolle den Landwirten ihre Agrarflächen wegnehmen, um darauf Geflüchtete unterzubringen. Wie das zusammengeht? Dass Lee sich rechtspopulistisch geäußert hätte, habe Eroglu nicht mitbekommen.

Im Skandal versunken: Tierschutzpartei

Die Tierschutzpartei erlangte 2014 erstmals eins der 96 deutschen Parlamentsmandate, das sie 2019 verteidigen konnte. Laut ihrer Website verfolgt die Tierschutzpartei in der Europäischen Union die Anerkennung unveräußerlicher Tierrechte. Dazu gehörten auch „tierleidfreie“ Ernährung und tierversuchsfreie Forschung. Als bekannt wurde, dass ihr EU-Abgeordneter Martin Buschmann früher Mitglied der rechtsextremen NPD war, schloss die Tierschutzpartei ihn aus und forderte ihn auf, sein Mandat niederzulegen – ohne Erfolg. Buschmann gehört als Partei- und Fraktionsloser noch immer dem Europäischen Parlament an.

Im direkten Wortsinne ein Familienunternehmen: Familien-Partei

Auch die Familien-Partei, die sich mit „Familie“ abkürzt, ist seit 2014 im Europaparlament vertreten. Seit 2019 hält der Parteivorsitzende Helmut Geuking (60) einen Sitz im Europäischen Parlament, der auch bei der diesjährigen Europawahl als Spitzenkandidat antritt. Im Februar legte Geuking sein Mandat nieder, um sich auf den Wahlkampf zu konzentrieren, sein Sohn Niels Geuking (31) rückte für die Zwischenzeit nach und ist fraktionsloses Mitglied des Parlaments.

Zwei zentrale Forderungen der Familien-Partei sind ein staatliches „Erziehungsgehalt“, mit dem die Kindererziehung der Erwerbsarbeit gleichgestellt werden soll, und ein „Kinderkostengeld“, mit dem notwendige Ausgaben für Kinder nicht von den Erziehungsberechtigten, sondern gesellschaftlich getragen werden sollen. Auf europäischer Ebene tritt die Partei für eine zunehmende europäische Integration ein. Zudem fordert sie ein europäisches Kindergeld als Ergänzung zum nationalen Kindergeld.

Satire und Spaltung: Die Partei

Martin Sonneborn, Ex-Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“, sitzt bereits seit zehn Jahren im EU-Parlament – und hat sich von einem bissig-nihilistischen Beobachter der Brüsseler und Straßburger Zustände zu einem Einzelkämpfer mit moralischem Impetus entwickelt. 2019 zog mit Sonneborn der Comedian Nico Semsrott für die Partei ein. Zwei Jahre später trat er nach einem Zerwürfnis mit Sonneborn über einen als rassistisch verstandenen Tweet aus. Sonneborn will nun mit der Bestsellerautorin Sibylle Berg (61) weitere fünf Jahre nach Brüssel gehen.

Immer noch nicht versenkt: Piratenpartei

Deutschlandweit ist es um die Piratenpartei still geworden, doch im Europaparlament hält sie sich seit 2014, seit 2019 mit dem Abgeordneten Patrick Breyer (Jahrgang 1977), der sich der Fraktion der Grünen angeschlossen hat. Der neue Bundesvorsitzende Lukas Küffner (22) ist auch Spitzenkandidat.

Die Piraten verstehen sich als Partei für die digitale Zeit und fokussieren sich auf Netzpolitik. Unter anderem fordern sie eine Reform des Urheberrechts und setzen sich für freien Zugang zu Publikationen im Internet ein.

Die Neuen mit Chancen auf einen Sitz

Aus der Corona-Zeit: Die Basis

Mit der Basisdemokratischen Partei Deutschlands, kurz Die Basis, könnte der parteipolitische Arm der früheren „Querdenken“-Bewegung ins Europaparlament einziehen. Im Corona-Sommer 2020 gegründet, gehörte die Kritik an den Corona-Maßnahmen zum Kern der Partei, die sich in den Folgejahren immer wieder zerstritt.

Reden statt Kleben: Letzte Generation

Die Klimaprotestgruppe Letzte Generation tritt erstmals bei der Europawahl unter dem Namen „Parlament aufmischen – Stimme der Letzten Generation“ an. In der Vergangenheit hatten die Aktivisten der Gruppe vor allem durch Verkehrsblockaden von sich reden gemacht. Spitzenkandidatin ist Lina Johnsen (26). Zu den Forderungen der Letzten Generation gehören europaweite Bürgerräte und der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen bis spätestens 2030.

Erdogans Partei in Europa: Dava

Er hat für den Lobbyverband der türkischen Regierungspartei AKP Werbung in Deutschland gemacht, nun will der Frankfurter Anwalt Fatih Zingal (44) mit einer neuen politischen Gruppierung in Deutschland um Stimmen werben. Sein Ziel sei, „alle ethnischen und religiösen Minderheiten in Deutschland zu vertreten und ihnen eine politische Plattform zu bieten“. Die neue „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“ (Dava) weist Vorwürfe zurück, Kontakt zur Erdogan-Regierung zu haben. Es ist nicht der erste Versuch, die Stimmen konservativer Türkischstämmiger in Deutschland einzusammeln. Auch das ähnlich gelagerte „Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit“ (BIG) tritt wieder an – 2019 holte es 0,2 Prozent der Stimmen.

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